Die digitale Revolution gestalten - eine evangelische Perspektive

Den Grundimpuls des Christentums nach vorne richten

Die Digitalisierung ist kein simpler Trend, sondern ein epochaler Veränderungsprozess, der die Grundfesten unseres Zusammenlebens und Zusammenarbeitens in bislang ungekanntem Maße herausfordert und redefiniert.

Älteste Grundlage der digitalen Technik ist das von Gottfried Wilhelm Leibnitz im Jahr 1696 als Bildnis der Schöpfung ("imago creationis") erdachte binäre Zahlensystem, das auf der Überzeugung basiert, Gott habe Alles ("1") aus dem Nichts ("0") erschaffen. Alle modernen Digitalcomputer basieren auf diesem Zahlensystem – hochintegriert in digitalen Halbleiterchips. Moderne Produktionstechnologien sorgen dafür, dass sich die Integrationsdichte auf Halbleiterchips und damit sowohl Rechenleistung wie Speicherkapazität alle 18 bis 24 Monate verdoppelt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Digitalisierung durch diese rasante Leistungssteigerung und die zunehmende globale Vernetzung der Datensysteme geprägt, die die umfassende Anwendung hoch entwickelter Simulationsmodelle gepaart mit der Bereitstellung und Korrelation von massenhaften Daten ("Big Data") erlauben und über alle wissenschaftlichen Disziplinen hinweg mittelfristig zu einem immer vollständigeren digitalen Abbild der Schöpfung führen werden. Das gibt dem Gedanken des "imago creationis" eine völlig neue Bedeutung.

Neue Technologien breiten sich in rasanter Geschwindigkeit auf dem gesamten Erdball aus, so entstehen im Silicon Valley Milliarden-Imperien, verschwinden einst stolze Global Player durch falsche oder mangelnde Anpassung vom Markt, verändern sich Berufsbilder und Kommunikationsformen – die digitale Transformation macht vor keiner Industrie, keiner Branche und keinem Lebensbereich halt. Sie verändert nicht nur unsere Kommunikation und unsere Wirtschafts- und Arbeitswelt, sondern sowohl unseren eigenen Umgang mit uns selbst und der Welt aus uns heraus als auch unser gesamtes Miteinander. Sie verändert vollständig unser Selbstverständnis, in sehr viel stärkerem Maße als das durch die Industrialisierung bei unseren Vorfahren geschehen ist.

Dabei ist die digitale Revolution nicht die einzige Umwälzung, der wir uns dieser Tage gegenübersehen – so kann zum Beispiel auch im Bereich der molekularen Medizin und Biochemie getrost von Revolutionen gesprochen werden, die unsere Gesellschaft von Grund auf verändern und mit ähnlicher Geschwindigkeit alle Bereiche unseres Lebens durchsetzen. Zwar fokussiert sich dieser Impuls explizit auf die Notwendigkeit der Gestaltung der digitalen Revolution, doch gilt es, bei eben jener Gestaltung die gesamte Veränderungswucht, der sich Individuum und Gesellschaften global gegenübersehen, anzuerkennen und zu berücksichtigen.

Es ist vor allem die enorme Geschwindigkeit, mit der sich dieser Wandel vollzieht, sowie die enorme Komplexität des Wandels, die viele Menschen in Angst versetzt. Angst davor, dass die Welt sich zu schnell verändert, Angst davor, den Anschluss zu verlieren. Doch die Digitalisierung zu dämonisieren, ist nicht nur nicht zielführend, sondern auch irreführend, denn Zukunft ist keine Prognose, sondern eine Aufgabe. Wie jeder tiefgreifende Veränderungsprozess birgt auch der Prozess der Digitalisierung große Chancen und große Risiken zur gleichen Zeit und wirft somit auch ethische und ordnungspolitische Fragestellungen auf. Den Chancen etwa bei der Behandlung schwerer Erkrankungen durch früher unmögliche datenbasierte Diagnostik, aber auch Chancen für Unternehmen, neue Märkte zu erobern, stehen Risiken und Unklarheiten, etwa bei Fragen zur Wahrung der individuellen Selbstbestimmung, entgegen. Es ist Aufgabe des Menschen, die sich bietenden Chancen verantwortungsvoll zu ergreifen und gleichzeitig Risiken frühzeitig zu erkennen und sie zu minimieren. Der Raum dazu besteht: wie jeder andere Veränderungsprozess bietet auch die Digitalisierung Gestaltungsräume für diejenigen, die fähig und willens sind, sich mit ihr aktiv auseinanderzusetzen. Für die Evangelische Kirche in Deutschland und ihre Gliedkirchen gilt es dabei, die Versäumnisse, die es seinerzeit bei der Gestaltung der Industrialisierung gab, nicht zu wiederholen und sich aktiv, sachkundig und gestaltend in den Veränderungsprozess, der vor uns liegt, einzubringen. Im Sinne des Freiburger Bonhoeffer-Kreises gilt es dabei stets zu bedenken, "Was die Kirche nicht selbst zur Wirtschaftsordnung zu sagen berufen ist, hat sie den christlichen Laien zu überlassen." Der im November 2017 vom Rat der EKD der Synode vorgelegte Bericht über den Prozess der Kommunikation des Evangeliums in der digitalen Gesellschaft ist ein erster Schritt, diese Verantwortung wahrzunehmen. Mit dem Impuls "Die digitale Revolution gestalten – eine evangelische Perspektive" möchten wir als Arbeitskreis Evangelischer Unternehmer unsere Expertise in den Diskurs einbringen und so die Evangelische Kirche dabei unterstützen, ihre gestaltende Rolle im Rahmen des vor uns liegenden gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozesses wahrzunehmen. Der Komplexität dieser Herausforderungen Rechnung tragend, bleibt unser Text daher stets offen für Veränderungen, die sich aus erweiterten und neuen Erkenntnissen ergeben.

Ein großer Unterschied zu früheren Veränderungsprozessen ist die Geschwindigkeit, mit der sich die Digitalisierung ihren Weg bahnt. Eine Rasanz, die etablierte Unternehmen zuweilen genauso fordert wie den einzelnen Menschen. Die Gesellschaft und ihre Institutionen, und damit der Staat, aber auch die Evangelische Kirche in Deutschland und ihre Gliedkirchen sowie all jene, die künftig gesellschaftliche Verantwortung tragen werden, sind in Zeiten des digitalen Wandels mehr denn je gefordert, die Gratwanderung zwischen Bewahren und Gestalten zu meistern. Einerseits braucht es eine beschützende Rolle für diejenigen, für die die Veränderung nicht eigenständig bewältigbare, substantielle negative Folgen hat. Andererseits bedarf es auch einer progressiven und gestaltenden Rolle, um der anstehenden Veränderung nicht bloß passiv und tatenlos beizuwohnen, sondern sie Kraft des eigenen sozialethischen Verständnisses aktiv zu gestalten, auf dass sie nicht nur unserer eigenen Gesellschaft, sondern der gesamten Menschheit dienlich ist. An dieser Stelle ist ein Diskurs darüber, wer in einer digitalisierten Gesellschaft künftig gesellschaftliche Verantwortung tragen wird, unerlässlich. Es gilt anzuerkennen, dass der Prozess des digitalen Wandels einen gesamtgesellschaftlichen Wandel antreibt, der in Zukunft die institutionelle Struktur unserer Gesellschaft, die wir gewohnt sind, verändern wird, möglichweise in radikaler Form.

Seit jeher vereint das Christentum - und insbesondere der Protestantismus - eine beschützende Rolle mit einem mutigen, nach vorne gerichteten Grundimpuls. Jesus Christus ist hier Vorbild. In Zeiten wie diesen ist die Evangelische Kirche einmal mehr gefordert, aktiver Teil der Veränderung zu sein, ihr mutig zu begegnen, sie nicht allen voran als Bedrohung zu begreifen, sondern als etwas, das gestaltet werden kann, gestaltet werden will, gestaltet werden muss. Es war immer Aufgabe von Christen in der Nachfolge Jesu, positiv und proaktiv zu wirken, denn wer bewahren will, der muss gestalten.

Impulse für eine aktive Gestaltung des Morgen

Doch wie gestaltet man Digitalisierung? Vor jeder Gestaltung steht das Begreifen dessen, was ist. Der Arbeitskreis Evangelischer Unternehmer versammelt christliche Unternehmer, die tagtäglich mit den Herausforderungen des digitalen Zeitalters konfrontiert sind und die in ihren Unternehmen seit Jahren an Lösungen arbeiten, um die Transformation hin ins digitale Zeitalter zu einer Erfolgsgeschichte zu formen. Der AEU versteht sich in wirtschaftlichen, unternehmerischen und sozialen Fragen als institutioneller Gesprächspartner der Evangelischen Kirche in Deutschland, ihrer Einrichtungen und Werke. Dabei bringen die Mitglieder des AEU ihr Können und ihre Erfahrungen, eingebunden in ihren Glauben, in die Zusammenarbeit von Menschen in Kirche und Wirtschaft ein. Dies bedeutet nicht zuletzt, den Funktionsträgern der Evangelischen Kirche wirtschaftliche Zusammenhänge zugänglich zu machen und unternehmerische Entscheidungen und Herausforderungen zu erläutern, um die Evangelische Kirche so in ihren vielfältigen Bemühungen um die Gestaltung der Wirtschafts-, Sozial und Gesellschaftsordnung zu unterstützen. Mit Blick auf die Herausforderungen und die Chancen der Digitalisierung will der AEU daher eine möglichst umfassende und gleichzeitig prägnante Beschreibung des Ist-Zustandes liefern, um so den beginnenden Diskurs innerhalb der Evangelischen Kirche über eine gesamthafte Positionierung zu den vor uns liegenden Veränderungsprozessen konstruktiv zu begleiten.

Allem voran soll der Impuls "Die digitale Revolution gestalten – eine evangelische Perspektive" daher einen Abriss über den Status Quo und die gegenwärtigen Herausforderungen der Digitalisierung aus der Perspektive christlicher Unternehmer vermitteln. Zwar steht hierbei die Digitalisierung von Wirtschafts- und Arbeitswelt aufgrund der dem AEU immanenten Expertise im Mittelpunkt, doch streift dieser Text auch Fragestellungen etwa aus den Bereichen Bildung oder Empowerment, da ein allzu isolierter Siloblick auf die Wirtschafts- und Arbeitswelt schon ob der schieren Allgegenwart der Digitalisierung wesentliche Teile der Realität nicht erfasst. Auf Basis der sozialethischen Haltung des AEU soll der Text in Ergänzung zu bestehenden Diskursen innerhalb der Evangelischen Kirche notwendiges Rüstzeug vermitteln und nicht zuletzt drängende Fragen stellen, die die Evangelische Kirche im Zeitalter des digitalen Wandels beantworten muss, um eine aktive Rolle bei der Gestaltung des Morgen einzunehmen.

Herausforderungen für die Wirtschaft im digitalen Zeitalter

Die Digitalisierung verstehen wir als einen multidimensionalen, gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozess, der kein starres Zielbild kennt, sondern sich vielmehr durch eine kontinuierlich akzelerierte Innovations- und Veränderungsgeschwindigkeit auszeichnet – ein Prozess, der alle Lebensbereiche erfasst und sie nachhaltig verändert. Dies fordert sowohl Unternehmen mit Blick auf ihre zukünftige Wertschöpfung heraus als auch das Individuum, etwa mit Blick auf eine wachsende Eigenverantwortung.

Die Wucht, mit der die Digitalisierung bestehende Marktpositionen ins Wanken bringt, zeigt sich beispielhaft an den Multimilliardenbewertungen der auch GAFA-Ökonomie genannten Internetriesen Google, Amazon, Facebook und Apple. In kaum einer Dekade sind aus Garagentüfteleien Imperien entstanden, die inzwischen die globalen Märkte für Werbung, Daten, IT-Services, Betriebssysteme oder Consumer Electronics dominieren und alte Platzhirsche zum Teil in die Bedeutungslosigkeit verdrängt haben. Mehr noch, die Plattformen aus dem Silicon Valley übertrumpfen mit Blick auf ihre Marktkapitalisierung auch Traditionskonzerne von Weltrang – die vier genannten Unternehmen sind heute gemeinsam höher bewertet als der gesamte DAX30. Das Prinzip der Plattformökonomien, befeuert durch die flächendeckende Verbreitung von mobilem Internet und durch immer schnellere Formen der Datenübertragung, ist ein einfaches: The Winner Takes It All. Die schleichende Monopolisierung bzw. Oligopolisierung von ganzen Wirtschaftszweigen ist dabei gleichermaßen ein anzuerkennendes Faktum und eine Herausforderung, widerspricht sie doch grundsätzlichen Ideen von freiem Wettbewerb in der Sozialen Marktwirtschaft. Zur Genese dieser ersten Welle der Plattformökonomien ist anzumerken, dass sie aufgrund ihrer weitgehend immateriellen Wertschöpfung zumindest theoretisch an beinahe jedem Ort der Welt hätten entstehen können. Dass Google, Facebook und Co. ausgerechnet im Silicon Valley entstanden, ist dabei vor allem der Verfügbarkeit von regulatorischer Freiheit, Risikokapital, klugen Köpfen und nachgelagerten Netzwerkeffekten zu verdanken.

Für die hiesige Industrie gilt es, nicht dem Verpassen der ersten Welle der Plattformökonomien nachzutrauern, sondern vielmehr sich auf die herannahende nächste Welle des digitalen Wandels zu konzentrieren: die Digitalisierung der Industrie. Unter Schlagwörtern wie Industrie 4.0 oder Internet of Things firmiert dabei letztlich der Gedanke, industrielle Prozesse horizontal wie vertikal zu vernetzen und so erhebliche Effizienzsteigerungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu erzielen. Eine Herausforderung, die deutlich komplexer ist, als etwa die Digitalisierung und Zentralisierung des Handels, da sie neben einer marktdominanten Plattform ein tiefgreifendes Verständnis der zugrundeliegenden industriellen Wertschöpfung erfordert – Domänenwissen, über das der Industriestandort Deutschland in Fülle verfügt. Das Rennen um diese nächste Welle der Digitalisierung ist derzeit noch vollkommen offen. Für die deutsche High-Tech-Industrie bietet sich hier die große Chance, den vorhandenen Technologievorsprung in Plattformen zu übersetzen, die Standards für die künftige Vernetzung von Industrie setzen und so künftige Wertschöpfung sicherstellen und zudem neue Geschäftsfelder erschließen.

Dabei ist die digitale Optimierung in der Industrie nichts gänzlich Neues. Sie begann bereits vor rund vierzig Jahren mit der Simulation technischer Eigenschaften von Produkten und Fertigungsprozessen, die darauf abzielte, komplexe Aufgaben effizienter zu lösen und neue Lösungsräume zu erschließen. Bereits zu dieser Zeit veränderten sich Berufsbilder – es entstanden gänzlich neue Berufe und Berufsfelder, während andere aufgrund des technologischen Fortschritts immer weniger nachgefragt waren. Im nächsten Schritt hielt die übergeordnete Optimierung technischer Systeme in Echtzeit Einzug, die – und dies ist die gravierende Veränderung – es heute aufgrund von technologischen Innovationen möglich macht, Abermillionen Dinge über beliebige Entfernungen in Echtzeit miteinander zu vernetzen und sie so zu optimieren.

Mit den bereits entstandenen und noch entstehenden Möglichkeiten der Vernetzung verändern sich die Ausgangsbedingungen für künftigen Erfolg: War noch vor einiger Zeit klassisches Know-How die erfolgskritische Größe für Unternehmen, so sind es heute Daten bzw. die Fähigkeit der Datenanalyse und -verarbeitung. Diese Entwicklung wird kein absehbares Ende nehmen, sondern sie beginnt gerade erst und bahnt sich mit exponentieller Geschwindigkeit ihren Weg. Es gilt anzuerkennen: Alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert werden. Alles, was vernetzt werden kann, wird vernetzt werden. Die Kosten dafür sinken rapide und der gesamtgesellschaftliche Nutzen ist bei allen Risiken nicht von der Hand zu weisen. Dass dieser Wandel die Bedeutung der menschlichen Arbeitskraft als entscheidenden Produktionsfaktor künftig reduzieren wird, ist nicht zwangsläufig negativ zu betrachten, da auch in Zukunft sinnvolle und erfüllende Beschäftigungen für den Menschen bestehen und neu entstehen werden, insbesondere in der Mensch-zu-Mensch-Interaktion, wie zum Beispiel im diakonischen Bereich, der durch den demografischen Wandel immer weiter an Bedeutung gewinnen wird.

Es gilt anzuerkennen, dass Digitalisierung und in ihrer Folge die Künstliche Intelligenz, wie auch die Vernetzung das Anforderungsprofil an Mitarbeiter verändern, da sie an vielen Stellen die Fähigkeiten des Menschen erweitern. Gleichzeitig wirft die zunehmende Vernetzung jedoch auch Fragen zum Verhältnis von Mensch und Maschine auf: Was kann der Mensch, das die Maschine nicht kann? Wo ist er unersetzbar? Es ist gleichermaßen eine Fehleinschätzung, den fortschreitenden digitalen Wandel als etwas zu betrachten, das sich aufhalten ließe, würde man nur genügend Kraft aufwenden, wie es auch eine Fehleinschätzung ist, man könnte nun einzig ergeben dem harren, was da auf uns zurollt.

Für die zunehmende Relevanz von Daten und Algorithmen etwa bedeutet dies anzuerkennen, dass der Mensch derzeit noch immer der Ausgangspunkt auch selbstlernender Systeme ist, also die Spielregeln der häufig als Künstliche Intelligenz bezeichneten Systeme definiert. Es obliegt dem Menschen, in diese Systeme sowie in die ihnen zugrundeliegenden Datenkorpora ethische, soziale und ökonomische Faktoren einzuspeisen und so ihre Entscheidungslogik zu formen. Anders als bislang helfen dabei nicht regionale oder nationale Abgrenzungskriterien, sondern es gilt die Welt zum Maßstab zu nehmen. Eine Diskussion über den digitalen Wandel, die ausschließlich die Lage, Wünsche, Befindlichkeiten und Perspektiven der deutschen Gesellschaft zum Kern hat, läuft entsprechend an den Treibern der Digitalisierung vorbei und somit ins Leere. Vielmehr gilt es, zumindest eine asiatische und eine nordamerikanische Perspektive in den Diskurs einzubinden und die dortigen religiösen Voraussetzungen miteinzubeziehen, da die sozialen Prozessstrukturen, die sich durch die Digitalisierung verändern, erheblich von den individuellen Denkmustern der Programmierer und Softwareentwickler beeinflusst sind, die qua Herkunft religiös und ethisch nicht christlich geprägt sind. Das häufig technische Denken auch mit unseren ethischen und moralischen Paradigmen anzureichern ist eine Aufgabe, der sich nicht zuletzt die Evangelische Kirche stellen muss. Voraussetzung dafür ist jedoch, zu verstehen, wie soziale Prozessstrukturen im Zeitalter von Code und Daten entstehen. Dabei müssen sich Ethik und Moral um die gleiche Präzision bemühen wie die Physik, wollen sie in der globalen Debatte bestehen.

Künstliche Intelligenz stellt uns vor ethische Herausforderungen

Die rasant zunehmende Relevanz von Künstlicher Intelligenz ist ein zentraler Bestandteil und gleichzeitig Folge des digitalen Wandels. Der Begriff "Künstliche Intelligenz" existiert zwar bereits seit Mitte des 20. Jahrhunderts, doch erst die durch den digitalen Wandel fortschreitende Datafizierung unserer Gesellschaft sowie die exponentiell steigende Rechenleistung ermöglicht der Künstlichen Intelligenz ihre Verbreitung. Die Grundlage für all das, was unter dem Terminus "Künstliche Intelligenz" firmiert, sind Daten sowie Algorithmen, die Massen an Daten auswerten, Muster erkennen und schließlich autonom lernen. Entsprechend ist es die Vernetzung von wirtschaftlichen und industriellen, aber auch privaten Informationen und Prozessen, die die Möglichkeiten Künstlicher Intelligenz entfacht haben und weiter anfachen werden. Eine wichtige Rolle bei der zunehmenden Ausbreitung Künstlicher Intelligenz spielt auch die Robotik, die aus den Fabriken in Form autonomer Systeme zunehmend in unsere Umwelt vordringt und etwa in der Medizin unsere eigenen Fähigkeiten sinnvoll ergänzt.

Genauso wie der Diskurs über Digitalisierung wird auch der Diskurs über Künstliche Intelligenz mit häufig utopischen oder dystopischen Narrativen geführt. Klar ist: Künstliche Intelligenz wird innerhalb des Veränderungsprozesses Digitalisierung eine exponierte Rolle einnehmen. Es ist zielführend, sich auf die Gestaltungsräume, die Künstliche Intelligenz bietet, zu fokussieren und zu überlegen, wie unsere Welt in Zukunft gestaltet sein soll und welche Rolle wir als Menschen darin spielen. Die Erforschung Künstlicher Intelligenz wird dabei nicht primär von unabhängigen oder gemeinwohlorientierten Forschungsinstituten, sondern maßgeblich von Tech-Giganten wie Google, Facebook oder Amazon angetrieben – ein Aspekt, der Fragestellungen zu Ethik und Verantwortung nahelegt. Generell ist die ethische Dimension bei der Betrachtung und Ausgestaltung Künstlicher Intelligenz höchst relevant. Werden autonome System zum Subjekt von Ethik, da Entscheidungsprozesse digital abgebildet werden und Verantwortung entsprechend auf Maschinen verlagert wird? Welche Daten-Verknüpfungen sind erlaubt? Wem gehören die Ergebnisse, die ein künstlich intelligentes System erzeugt? Gibt es ein Recht auf Vergessen? Diese Fragestellungen sind lediglich beispielhafte Überlegungen, mit denen sich eine ethische Debatte über Künstliche Intelligenz zu befassen hat.

Ob und wann künstlich intelligente Systeme die Schwelle zur sogenannten Singularität überschreiten, also über Selbsterkenntnis und Bewusstsein verfügen werden, wird zurzeit noch kontrovers diskutiert und bleibt der Zukunft vorbehalten. Solch eine mögliche Entwicklung wirft jedoch komplexe Fragen zur künftigen Rolle des Menschen auf, da sie die bisherige Vorstellung, dass ein ganzheitliches Menschenbild von Künstlicher Intelligenz mitnichten eingeholt werden kann, herausfordert. Moderne Erkenntnistheorie zwingt hier die Frage auf, ob Künstliche Intelligenzen in Zukunft ebenfalls schöpferisch im biblischen Sinne tätig werden können und ob sie den ihnen "eingebauten" Determinismus von Maschinen überwinden werden. Aktuelle wissenschaftliche Konzepte lassen dies zumindest möglich erscheinen.

Neue Geschäftsmodelle durch radikale Kundenzentrierung

Neben der zunehmenden Relevanz von Daten und Künstlicher Intelligenz gilt es, eine weitere zentrale Veränderung zu berücksichtigen, die der digitale Wandel mit sich bringt: Künftiger Erfolg ist nicht mehr primär von Technologieführerschaft determiniert, sondern beruht auf innovativen Geschäftsmodellen. Eng verbunden mit den Denkmustern der Softwareentwickler und Digitalunternehmer ist das für die Old Economy häufig ungewohnte radikale Denken in Geschäftsmodellen. Diese Entwicklung hin zu produktgetriebenem, konsequent kundenzentriertem Geschäftsmodelldenken, das sich aus den Möglichkeiten zunehmender und unmittelbarer Individualisierung von Kundenangeboten speist, stellt eine der maßgeblichsten Veränderung dar, die der digitale Wandel für die Wirtschaftswelt bedeutet. Mehr noch: es ist in vielen Industrien bereits zum erfolgskritischen Moment geworden. Galt früher in der Industrie Technologieführerschaft und Innovationsfähigkeit als Garant für wirtschaftlichen Erfolg in Gegenwart und Zukunft, so zeigt die vergangene Dekade, allen voran durch den Siegeszug der Plattform-Ökonomien, dass technologischer Vorsprung seinen Wert insbesondere mit Blick auf künftigen Geschäftserfolg verliert, wenn er nicht von innovativen Geschäftsmodellen getragen wird. Das Domänenwissen, über das die deutsche Industrie verfügt, wird daher in der Zukunft alleine kein Garant mehr sein, der Erfolg sicherstellt.

Dies lässt sich etwa am Beispiel des Automobilbaus verdeutlichen: Hier mag der technologische Vorsprung, den sich etablierte Automobilbauer und -zulieferer erarbeitet haben, so gewaltig sein, dass er bislang den Markteintritt konkurrierender Bewerber deutlich erschwert hat. Plattformen wie Uber oder aber Carsharing-Anbieter sind jedoch im Begriff das Geschäftsmodell der Automobilindustrie grundlegend zu verändern: aus Autoverkäufern werden Mobilitätsanbieter. Zwei weitere Beispiele aus dem Bereich der Mobilität stoßen in eine ähnliche Richtung: So entsteht etwa durch die zunehmende Verbreitung der Elektromobilität künftig ein neues Geschäftsfeld für die globale Ladeinfrastruktur, das unter anderem vom E Mobilitäts-Pionier Tesla und weniger von den traditionellen Autobauern besetzt wird. In einem anderen Beispiel entschloss sich das Logistikunternehmen DHL ein Startup zur Entwicklung von elektrisch betriebenen Kleinlastern, das seinen Ursprung an der RWTH Aachen hatte, zu kaufen und wurde so an der Automobilindustrie vorbei zum technologischen Marktführer in einem neu erschlossenen Geschäftsfeld von Elektrofahrzeugen.

Diese Beispiele zeigen, wie erfolgskritisch es für etablierte Unternehmen ist, ihre eigenen analogen Produkte digital zu verlängern, etwa mit Serviceangeboten oder ähnlichem, sowie gänzlich eigene digitale Produkte zu entwickeln, die losgelöst von bisheriger Wertschöpfung stehen. Bei der Entwicklung solcher Produkte ist die bereits erwähnte Kundenzentrierung von besonderer Bedeutung: Wie kann ein Unternehmen Produkte entwickeln, die sich wirklich an den Bedürfnissen seiner Kunden orientieren? Wie löst man mit einem Produkt ein Problem, das die Kundschaft hat? Dabei gilt es sich zu vergegenwärtigen, dass "Kunden" die Chiffre für "Teile der Gesellschaft" ist. Statt Perfektion und Tradition bedeutet kundenzentriertes Denken vor allem Anpassungsfähigkeit und Iteration in Höchstgeschwindigkeit – eine Herausforderung, insbesondere für Traditionsunternehmen, die lange Entwicklungszyklen und interne Abstimmungsschleifen gewohnt sind.

Die Herausforderung für die hiesige Industrie liegt darin, die uneingeschränkte Kundenzentrierung in den Mittelpunkt zu stellen und daraus neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, um so zu verhindern, dass sich Intermediäre zwischen Endkunden und Produzenten stellen. Es gilt nicht nur für Unternehmen, sondern auch für die Evangelische Kirche und ihre Gliedkirchen anzuerkennen, dass diese Kundenzentrierung - und nicht nur die auf die aktiv Mitwirkenden - aufgrund der wachsenden Macht des Menschen als Akteurs und Verbrauchers, die sich etwa am kundengetriebenen Siegeszug des Smartphones ob seiner überlegenen Benutzerführung zeigt, ein zentrales Charakteristikum des digitalen Zeitalters ist. Es ist der Kunde als Nutzer, der bei aller unbestrittenen, in Teilbereichen monopolisierten Marktmacht der Plattform-Giganten, letztlich über Wohl und Wehe einer Unternehmung oder Organisation entscheidet, da er sich heutzutage deutlich schneller und einfacher als früher einem besseren Angebot zuwendet, sobald er es am Markt vorfindet. Für die historisch gewachsene Struktur der Evangelischen Kirche als Körperschaft des Öffentlichen Rechts mit dem Selbstverständnis und Gepräge einer hoheitlich handelnden Behörde ist es herausfordernd, sich diese 'Nutzerzentrierung' zu eigen zu machen. Die Priesterschaft aller Getauften könnte jedoch im digitalen Zeitalter, in dem Bottom-Up-Diskurse und Netzwerke der Kern der Entscheidungsfindung sind, zu einem wirkmächtigen Element der Evangelischen Kirche werden, das zwar bisherige Strukturen relativiert und fraktalisiert, doch letztlich auf den Kern des Evangeliums rekurriert.

Um der vor uns liegenden Veränderung gerecht zu werden, zeigt sich an dieser Stelle ein zentrales Anforderungsmerkmal, das der digitale Wandel an Unternehmen wie Individuen und mithin auch an die Evangelische Kirche stellt: Wandlungsfähigkeit. Für Industrieunternehmen bedeutet dies, dass Tradition und Expertise alleine zu wenig sein werden, um die Zukunft erfolgreich zu bestreiten. Es bedarf vielmehr einer neuen Bescheidenheit, eines dauerhaften Hinterfragens seiner selbst und seines Tuns, einer Aufgeschlossenheit gegenüber dem Neuen, das sich in Geschäftsmodellen offenbart, in einem veränderten Miteinander, in gelebtem Trial-and-Error, kurz: in einem ganzheitlichen Kulturwandel, nicht zuletzt, da die Digitalisierung unternehmerisches Denken und Verantwortungsübernahme nicht nur von Führungskräften einfordert, sondern von jedem einzelnen Mitarbeiter.

Herausforderung und Chance: Kulturwandel

Je größer eine Organisation, je althergebrachter Hierarchien, je ausgeprägter Besitzstände, je mehr "Das-haben-wir-schon-immer-so-gemacht", desto schwieriger gestaltet sich jede Veränderung. Durch den Siegeszug des Silicon Valley erlebt die gesamte Wirtschaftswelt jedoch einen beispiellosen Kulturwandel, der altbekannte Ideen von Hierarchie, Teilhabe und organisationalen Strukturen aufbricht, respektive diejenigen mit geschäftlichem Erfolg und Wachstum belohnt, die zu eben jenem Wandel willens und fähig sind. Dadurch sind sowohl das freiheitliche als auch das korporative Element des Wirtschaftens grundsätzlich in Frage gestellt. Diesen notwendigen Wandel umwabern dabei miteinander konkurrierende Narrative – solche, die Angst vor Veränderung säen, und solche, die Innovationsfreude vermitteln und Zukunft zugänglich machen. Die Unternehmenswelt hat es zur Aufgabe, den unweigerlichen Wandel für ihre Mitarbeiter positiv erfahrbar zu machen, Barrieren und Hemmnisse abzubauen, Ängste zu nehmen und so den Willen zur kulturprägenden Gestaltung aktiv vorzuleben und zu vermitteln. Dazu bedarf es einer konsequenten Vermittlung von Wissen und Kenntnissen. Wissen, das diffuse Zerrbilder klärt. Kenntnisse, die dem Individuum Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten ermöglichen. Dies verändert nichts an der Ausgangssituation, die wie jede Veränderung mit Chancen und Risiken daherkommt, doch verändert es sehr wohl die Haltung, mit der das Individuum, aber auch eine Organisation als Ganze der Veränderung begegnet.

Der Kulturwandel besteht darin, dass die Vernetzung unter Zuhilfenahme der neuen technischen Möglichkeiten dazu führt, dass Zwischenebenen und Intermediäre, wie etwa im Handel geschehen, ausgeschaltet werden können. Hierarchische und lineare Strukturen verlieren in der Konsequenz an Bedeutung. Für die digitale Transformation unserer Wirtschaft ist entsprechend ein weniger hierarchisches, fähigkeitsbasiertes berufliches Miteinander, eine Kultur des besseren Arguments, des Experiments, erfolgskritisch. Es gilt, die Potentiale der gesamten Belegschaft noch zielführender als bisher zu aktivieren und in die Wertschöpfung einzubringen. Viel mehr als bisher wird es dabei auch darauf ankommen, die Kommunikationsformen innerhalb eines Unternehmens bzw. zwischen Unternehmen und Mitarbeitern wie Kunden so zu gestalten, dass sie den Anforderungen des digitalen Zeitalters gerecht werden. Die Schwierigkeit eines solchen nachhaltigen Kulturwandels besteht allen voran darin, die Organisations- und Kommunikationsformen entgegen jeglicher Bequemlichkeitstendenzen dauerhaft beweglich und offen zu halten.

Für den Unternehmer respektive das Unternehmen bedeutet dies, ein Gleichgewicht zwischen individueller Förderung des einzelnen Mitarbeiters und globaler Verantwortung für die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens herzustellen. Beispiele erfolgreicher Unternehmen zeigen, dass das Mitnehmen möglichst aller Mitarbeiter auf dem Weg ins digitale Zeitalter zu einer erfolgskritischen Größe geworden ist, dass Neugierde und Innovationsfreude über alle Altersgrenzen hinweg geweckt werden können, wenn notwendiges Wissen und notwendige Fertigkeiten vermittelt werden. Solch einen Mentalitätswandel in der Breite zu erzeugen ist gleichwohl ein herausforderndes Unterfangen, gilt es doch, unternehmerisches Denken, etwa mit Blick auf Geschäftsmodellentwicklung und Kundenzentrierung, über alle Hierarchieebenen hinweg zu etablieren und gleichzeitig jedem Mitarbeiter ein erhöhtes Maß an Handlungsspielräumen zur vereinbarten Zielerreichung zu gewähren. Zu diesem Zweck gilt es, Silos einzureißen, Dialog zu fördern und zuweilen das Experiment an die Stelle der Vollkommenheit zu setzen. Dabei beschränkt sich die Relevanz des Kulturwandels nicht auf die unternehmerische Sphäre, sondern ist etwa auch für Mission und Diakonie von besonderer Bedeutung. Dies mag vielen als ein Wagnis erscheinen, doch handelt es sich um ein Wagnis, das im Ergebnis das Individuum in seiner Freiheit bestärkt, da es mehr eigenverantwortliches Handeln ermöglicht, und so dem protestantischen Freiheitsbegriff entspricht.

Lebenslanges Lernen als Aufgabe für Unternehmen und Mitarbeiter

Einher mit größeren Freiheitsgraden, etwa mit Blick auf den Weg der Zielerreichung oder auf arbeitnehmerseitige Möglichkeiten zur Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort, geht eine wachsende Eigenverantwortung, die das digitale Zeitalter von jedem Menschen einfordert und die dem christlichen Menschenbild entspricht. In einer zunehmend digitalisierten Arbeitswelt wird es künftig etwa mehr selbständige Arbeit und weniger abhängige Arbeit geben, was wiederum grundlegende Auswirkungen auf die Sozialsysteme haben wird, die sich derzeit aus abhängiger Arbeit finanzieren. Es gilt, auch und insbesondere junge Menschen auf eine digitalisierte Arbeitswelt vorzubereiten und ihnen die notwendigen Fertigkeiten des permanenten und lebenslangen Lernens für das vor ihnen liegende Berufsleben an die Hand zu geben. Lineare Erwerbskarrieren, wie sie bis vor wenigen Jahren noch selbstverständlich waren, erscheinen dabei in Zukunft zur Rarität zu werden, da der rasante technologische Fortschritt nicht nur die Anforderungen an eine gelernte Tätigkeit verändert, sondern über ein Berufsleben hinweg auch die Aneignung gänzlich neuer Fertigkeiten, ja gänzlich neuer Berufsbilder – Berufsbilder, die es heute noch nicht einmal gibt – notwendig machen wird. Einerseits steht der Unternehmer hier als "Ermöglicher" in der Pflicht, Qualifizierungsangebote zu schaffen und Mitarbeiter für Veränderungen in ihrem Berufsfeld zu rüsten. Andererseits wird es immer stärker auch zur eigenverantwortlichen Aufgabe jedes einzelnen Menschen, seine eigenen Fähigkeiten über sein gesamtes Leben hinweg auszubauen und den Anforderungen der Arbeitswelt anzupassen.

Mit dem unternehmerischen Kulturwandel einher geht also ein Bewusstseinswandel in der Selbstwahrnehmung des Individuums: es steht im Wettbewerb, dauerhaft, ein Leben lang, nicht nur lokal, sondern auch mit den Lernhungrigen anderer Regionen und Kontinente. Abermals stehen hier konkurrierende Narrative zur Verfügung, wie sich diesem Faktum begegnen lässt: mit Angst oder aber mit Optimismus und Zukunftsfreude. Und abermals sind es Wissen und Bildung – zwei urprotestantische Elemente –, die diffuse Angst in eine positive und optimistische Haltung verwandeln können. Entsprechend ist es unternehmerische, aber auch gesellschaftliche und nicht zuletzt kirchliche Aufgabe, der erforderlichen, zunehmenden Eigenverantwortung des Individuums mit der Vermittlung von Bildung und Wissen zu begegnen. Diese Vermittlung von Bildung und Wissen ist künftig immer weniger als Schulung zu verstehen, da dazu eine zentrale Interpretation des Schulungsgegenstandes vonnöten wäre, die im digitalen Zeitalter jedoch kaum mehr zu leisten ist. Vielmehr bedarf es eines Perspektivwechsels, der im Sinne des protestantischen Reflexionsbegriffes an die Stelle der Schulung das Lernen setzt und somit die Befähigung zum Lernen und das Herausbilden einer Haltung zum Kern hat.

Gleichzeitig kann nicht geleugnet werden, dass die Digitalisierung wie jeder Veränderungsprozess auch Menschen zurücklässt. Wir müssen anerkennen, dass wir künftig eine gänzlich andere gesellschaftliche Struktur vor uns haben, deren Beschaffenheit wir zum Teil noch nicht einmal erahnen. In solch radikal veränderten und sich weiter verändernden Umfeldbedingungen müssen wir es für möglich halten, neue Antworten zu finden auf die tatsächlichen Herausforderungen des Wandels, anstatt ihn zu bekämpfen. Wir müssen diesen Realitäten Rechnung tragen und es für möglich halten, dass bestehende Mechanismen in Zukunft nicht mehr funktionieren werden und darum das Verhältnis von Eigenverantwortung und Solidarität in unserer Gesellschaft entsprechend den neuen Gegebenheiten neu gestaltet werden muss.

Die Digitalisierung macht keine Pause

Die Fragen sind drängend, spürt doch schon heute beinahe jeder die Veränderungsgeschwindigkeit in seinem privaten und beruflichen Alltag. Kluge Antworten auf die sozialethischen Herausforderungen des Wandels zu finden, ist nicht einfach. Man möchte sich eine Atempause wünschen, doch so verlockend der Gedanke an dieser Stelle auch erscheinen mag, die Digitalisierung möge kurz anhalten und uns den Raum geben, unsere Gedanken zu ordnen und unsere Positionen zu formulieren – es wird nicht geschehen, allein schon deshalb nicht, da überall auf der Welt Staaten wie Individuen von diesem Wandel profitieren.

Jedes Individuum, jedes Unternehmen, jede Organisation, wir als evangelische Christen stehen vor der Herausforderung, bei allen berechtigten Zweifeln, bei allen Bedenken und allen bestehenden Risiken, uns mit Zukunftsfreude auf das Mitgestalten einzulassen, uns aus unserer Komfortzone herauszubewegen, Chancen und Risiken unvoreingenommen zu bewerten, Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem Neuen zu zeigen, nicht nur das Gute zu sehen, doch auch nicht nur das Bedrohliche, uns aufzumachen, den digitalen Wandel aktiv zu gestalten, die Veränderung mit Hilfe der Rahmenbedingungen des Glaubens und den daraus erwachsenen ethischen Leitlinien zu formen.

Doch wo fangen wir an? Wer einem anderen vermitteln möchte, dass etwa Sport gesund ist oder Rauchen ungesund, der verschafft seinen Argumenten eine deutlich größere Kraft und Glaubwürdigkeit, wenn er selbst sportlich aktiv oder Nichtraucher ist, sieht doch der andere, dass da einer mit gutem Beispiel vorangeht, dass da einer das beherzigt, was er erzählt. Nicht sonderlich viel anders verhält es sich mit dem digitalen Wandel unserer gesamten Gesellschaft. Wer die beschriebenen Gestaltungsspielräume mit seinen Ideen bereichern will, wer dort gehört und ernstgenommen werden will, der ist ungleich glaubwürdiger, wenn er vermitteln kann, dass er versteht wovon er spricht, dass er seine eigenen Worte selbst beherzigt. Wollen wir als Evangelische Kirche also unsere Aufgabe wahrnehmen, den Diskurs über unser Zusammenleben im digitalen Zeitalter maßgeblich mitzuformen, dann wird uns dies unter Umständen leichter fallen, wenn es uns zeitgleich gelingt, uns in unserem eigenen Haus mit den sich aus der Digitalisierung ergebenden Veränderungen intensiv zu befassen und unsere Kommunikation, unsere Kultur, unsere Struktur und unsere Organisation an die veränderten Rahmenbedingungen des digitalen Zeitalters zu adjustieren. Erste, aus unserer Sicht aber nicht hinreichende Beispiele sind kürzlich in dem bereits zitierten Bericht des Rates der EKD an die Synode über den Prozess der Kommunikation des Evangeliums in der digitalen Gesellschaft für einen Teilbereich benannt worden.

Wir stehen auf dem sicheren Fundament unseres Glaubens

Bei aller Veränderungsdynamik und allen sich daraus ableitenden Anforderungen an Unternehmen und Individuen können wir doch bei der ethischen Betrachtung und Gestaltung aller Veränderung aus einem festen, sicheren Fundus schöpfen: unserem Glauben.

Die Soziale Marktwirtschaft gründet ganz wesentlich auf den ethischen Grundlagen und den ordnungspolitischen Prinzipien des Freiburger Bonhoeffer-Kreises, die auch heute, über 75 Jahre nach ihrer Formulierung an Aktualität nichts eingebüßt haben. Ziel war es damals, "eine Wirtschaftsordnung vorzuschlagen, die - neben ihren sachlichen Zweckmäßigkeiten - den denkbar stärksten Widerstand gegen die Macht der Sünde ermöglicht, in der die Kirche Raum für ihre eigentlichen Aufgaben behält und es den Wirtschaftenden nicht unmöglich gemacht oder systematisch erschwert wird, ein Leben evangelischer Christen zu führen." In der Sozialen Marktwirtschaft sind christliche Unternehmer ein zwingender Bestandteil. Als christliche Unternehmer und Führungskräfte halten wir Maß, weil wir uns an der christlichen Botschaft orientieren, die uns in unserem Handeln an den bedürftigen Nächsten verweist, und unsere persönliche Verantwortung vor Gott sehen. Freiheit und Verantwortung gehören für uns Protestanten zusammen, weil wir uns jeweils allein und individuell vor Gott verantworten müssen und gleichzeitig frei sind, weil Jesus die Schuld des Sünders tilgt.

Der Arbeitskreis Evangelischer Unternehmer versteht sich auf das Leitwort "protestantisch verantwortlich handeln" – eine Maxime, die auch für die aktive Ausgestaltung des digitalen Wandels von Relevanz ist. Das "Handeln" als Gegensatz zum "Aushalten" oder "Erdulden" ist Aufruf, auch im Zeitalter der Digitalisierung Initiative zu ergreifen, aktiv zu werden und nicht der Illusion anheim zu fallen, der Weltenlauf folge einem universellen, teleologischen Plan. Anstatt uns also ob der schieren Größe der vor uns liegenden Aufgaben in bequeme Aussagen zu vermeintlicher Alternativlosigkeit zu flüchten, liegt es an uns als Menschen, als Unternehmer und Führungskräfte, Alternativen aufzuzeigen, eben Gestaltungsspielräume zu erkennen und wahrzunehmen. Diese Rolle aktiver Gestaltung gilt es für uns, stets "verantwortlich" wahrzunehmen, also unsere Entscheidungen nicht unter Bezugnahme auf andere Autoritäten zu rechtfertigen, sondern stets die eigene Verantwortung für Handlungen, aber auch für Unterlassungen vor Gott und vor uns selbst zu tragen. Dieses Selbstverständnis impliziert der Begriff "protestantisch", der frei nach Luther einen jeden Christen dazu auffordert, seine Verantwortung vor Gott in und mit sich selbst wahrzunehmen und gleichzeitig Verantwortung gegenüber seinen Mitmenschen, Mitarbeitern oder nachfolgenden Generationen zu tragen. Weil wir frei sind, weil wir Wahlmöglichkeiten haben, verpflichten wir uns, als protestantische Christenmenschen verantwortlich zu handeln. Wenn es nun für uns als evangelische Unternehmer und Führungskräfte, als Christen gilt, die Veränderungsprozesse der Digitalisierung mitzugestalten, sie nach unseren ethischen Leitlinien zu formen, dann dürfen wir uns des festen und sicheren Gerüstes unseres Glaubens gewiss sein. Daraus folgt für uns, dass wir in letzter Instanz Gott gegenüber verantwortlich sind und diese Verantwortung in der Welt durch unser Tun wahrnehmen.